Komponieren in Klängen und bewegten Bildern

Kreiszeitung Sulingen, 15. April 2014

Sulingen – Mitten in den Osterferien ist beim Betreten des Sulinger Gymnasiums aus der Ferne Musik zu hören, es scheint fast ein komplettes Orchester am Werk zu sein.
Die leicht irreal wirkende Situation passt blendend zur Quelle der Töne: Mit dem Thema „Klangräume zwischen Traum und Wirklichkeit“ beschäftigen sich in einem der Klassenräume zwölf Jugendliche aus dem Projekt „Open Ears Concept – Junges Komponisten Ensemble“, die sich hier zu einem mehrtägigen Kompositionsworkshop getroffen haben.

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„Wir sind gerade dabei, etwas zu improvisieren, ein bisschen atonal auch“, sagt Wladimir Bogdanov. Der Berliner hat Klassische Trompete, Musikpädagogik und Kulturmanagement studiert, seit drei Jahren ist er selbstständig im Bereich der Kompositionspädagogik tätig. Seit fünf Jahren leitet er den Kompositionsworkshop „Filmvertonung Live“ im Rahmen der Begabtenförderung an Juniorakademien des Evangelischen Bildungszentrums Bad Bederkesa. Daraus entwickelte sich das „Junge Komponisten Ensemble“, das sich nicht darauf beschränkt, existierende Filme mit einem Klangteppich zu unterlegen: Die 14- bis 18-Jährigen drehen selbst Video-Sequenzen, machen Fotos, fügen das Material zusammen und bearbeiten es mit Effekten. Dann wird dazu die Musik entwickelt, am Ende steht ein Gesamtkunstwerk. „Der Künstler ist nicht nur Maler, oder nur Dichter, oder nur Musiker, sondern alles zusammen“, zitiert Bogdanov Albert Schweitzer. „Es geht darum, in der Komposition der Musik eine Beziehung zu anderen Medien aufzubauen, heute ist alles viel enger miteinander verbunden.“

Auf dem Smartboard des Klassenraums zeigt Bogdanov Beispiele bereits vertonter Videoclips: Die jungen Komponisten laufen auf einem Feld einem Regenbogen entgegen, eine Kampfsportübung, die Beine zweier Personen in roten Hosen, die sich begegnen, die Aufnahme eines Flußufers, in die durch einen Verzerrungsfilter Bewegung kommt. Dazu die Musik, die Stimmungen der Traumbilder verstärkt oder sie überhaupt erst interpretiert – atonale Klangwelten, Jazz oder Pop, nur die Kreativität setzt Grenzen.
Dass die Jugendlichen aus dem norddeutschen Raum (sie kommen zum Beispiel aus Hannover, Leer, Oldenburg) großen Spaß an dem Projekt haben, dass dank einer gemeinsamen Internetplattform auch außerhalb der Workshops weiterentwickelt wird, zeigt schon die Tatsache, dass sie das viertägige Treffen in Sulingen selbst angeregt, organisiert und finanziert haben. In Sulingen deshalb, weil fünf der Teilnehmer aus dem Sulinger Land stammen und das Gymnasium besuchen, dem ein herzliches Dankeschön der Gruppe dafür gilt, dass sie die Räume in den Ferien nutzen dürfen. Neele Oeckermann (18) aus Staffhorst ist mit am längsten dabei, war durch die Fachschaft Musik für die Begabtenförderung an der Junior-Akademie Bad Bederkesa empfohlen worden. Traumberuf Komponistin? „Eher weniger – die Musik soll ein Hobby bleiben. Würde ich das beruflich machen, ginge es mehr ins ‚Leistungsmäßige‘, dann würde ich nicht mehr so viel Spaß daran haben.“ Ihr Mitschüler Lasse Corus hingegen, ebenso lange dabei wie sie, bereitet sich bereits darauf vor, Jazz-Schlagzeug zu studieren.

Unterwegs zu den Klangorten der Zukunft

NMZ Ausgabe 9/13 – 62. Jahrgang

Von jungen Ohren lernen

Vielleicht auch aufgrund des besonderen Zugangs haben Kompositionsklassen für Kinder Konjunktur. „Aktives Gestalten ist fast wichtiger als das Konsumieren“, so Sascha Frömbling, Bratscher des renommierten Fauré Quartetts, das 2013 die künstlerische Patronage des YEAH! übernommen hat. „Leider sind solche Programme in der Musik noch nicht automatisch so präsent wie in anderen künstlerischen Bereichen.“ Vorhanden sind sie jedoch schon. Um nur einige Beispiele zu nennen: Matthias Kaul und Astrid Schmeling komponieren vielfach preisgekrönt mit Kindern in Winsen an der Luhe bei Hamburg, Aristides Strongylis in Leipzig und Wladimir Bogdanov in Berlin. Das Hamburger Projekt Klang­radar 3000 macht im wahrsten Sinne des Wortes Schule. Ein Diskurs ist eröffnet. Was in dieser Hinsicht europaweit ausprobiert wird, das zeigt YEAH! auf. Beispielsweise schaffen im Projekt „Notations“ des Klavierfestivals Ruhr Grundschulkinder kleine Eigenkompositionen unter dem Eindruck der „Douze Notations“ von Pierre Boulez. Dazu lernen sie auf dem Xylophon mit Boulez’ Zwölftonreihe zu experimentieren. Türen werden aufgestoßen und Funken entzündet, es wird schlummernde Kreativität geweckt.

Wenn wir Josephines Bild aus dem Projekt „Feel the Music“ betrachten und wenn wir eine Kinderkomposition aus „Notations“ hören – was für eine Art Kunst ist das? Ist die Frage berechtigt? Für Josephine ist das Bild ein Ausdrucksmittel, es kann ihr Sprache sein. Modellklassen, wie die Kompositionsklasse in Winsen an der Luhe zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie den Kindern in der Ernsthaftigkeit des künstlerischen Ausdrucks auf Augenhöhe begegnen. Schaffen Kinder Kunst? Auch dieser Frage widmet sich das YEAH! Podium. So wird die künstlerische Leiterin des Jungen Theaters Freiburg Thalia Kellmeyer exemplarisch von der Arbeit mit Immigranten- und einheimischen Kindern berichten. Für das dort entstandene integrative Projekt „Nächste Ausfahrt: Heimat“ wurde eigens das „Heim- und Fluchtorchester“ gegründet. Die Jugendlichen bringen ihre eigene Musik – Kompositionen und Improvisationen auf Grundlage der Musiksprache ihres Herkunftslandes – in den Probenprozess ein.

Doch es wird nicht nur diskutiert: Die Gäste des YEAH! Podiums dürfen ausprobieren „von jungen Ohren zu lernen“ und sofort einsteigen in eine spielerische Rezeption von Musik. Mit dem für den YEAH! Award nominierten Quartett PLUS 1 aus Hannover begibt sich das Publikum auf einen Klangparcours durch das Museum. Die jungen Tänzer des Folkwang Tanzstudio Essen aus dem Projekt „Notations“ überraschen mit ihren eigenen Choreografien zu musikalischen Improvisationen auf Basis der „Douze Notations“.